Zittauer Gedenken an Pogromnacht und Shoa

Zittau, 10. November 2017. Gestern gedachten am Abend etwa 50 Teilnehmer dort, wo in Zittau einst die Synagoge stand, der Opfer der Reichspogromnacht (früher verharmlosend "Kristallnacht" genannt) und des Holocaust. An die am 9. November 1938 zerstörte und später gesprengte Synagoge erinnert heute eine erst im Jahr 1989 angebrachte Gedenktafel. Jens Hentschel-Thöricht, stellvertretender Oberbürgermeister, Kreisrat und Vorsitzender der Stadtratsfraktion der Linkspartei mahnte in seiner Rede die Gesellschaft zur Wachsamkeit.
Abbildungen: Aus der Ausstellung "Jüdische Spurensuche" von Jörg Beier, Schwarzenberg in der Synagoge Görlitz im Jahr 2010. Der Görlitzer Anzeiger, Schwesterausgabe des Zittauer Anzeigers, war seinerzeit das einzige Medium, das die "Jüdische Spurensuche" ankündigte und von dieser Ausstellung berichtete (mit Bildergalerie). Beier nannte diese Ausstellung "meine persönlichste Ausstellung".

Anzeige

Die Ansprache von Jens Hentschel-Thöricht zum Gedenken an die Pogromnacht

Ein Licht Gottes ist der Menschen Seele. Zum Gedenken der vierzig jüdischen Seelen der Städte Zittau und Löbau, die in den Jahren 1933- 1945 hingerichtet, ermordet, vergast und verbrannt wurden. Weil sie Juden waren. Mögen ihre Seelen in die Gemeinschaft der Ewigen aufgenommen werden.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

diese Zeilen stehen auf dem 1948 auf dem Zittauer Friedhof errichteten Gedenkstein, der an die ermordeten Zittauer Jüdinnen und Juden erinnert.

Heute vor ganz genau 79 Jahren wurden jüdische Frauen und Männer misshandelt und ermordet, ihre Wohnungen und Geschäfte geplündert und zerstört.

Unter der propagandistischen Bezeichnung "Reichskristallnacht" ging dieser Tag in die Geschichte ein. Neunundsiebzig Jahre ist das nun her. Eine lange Zeit. Jeden Tag gibt es weniger Menschen, die sich als Zeitzeugen an dieses rabenschwarze Kapitel in der deutschen Geschichte erinnern. Wer heute jünger als 70 Jahre alt ist, hat den Weltkrieg und die Pogrome kaum bewusst miterlebt. Die "Gnade der späten Geburt" genießt die Nachkriegsgeneration. Doch heißt das, dass wir demnächst aufhören dürfen uns und andere an den 9. November 1938 zu erinnern?

Ich sage: Nein! Denn Unrecht verjährt nie! Die Jahre menschenverachtender nationalsozialistischer Diktatur in Deutschland und die Opfer der Holocaust sind ein nicht auszulöschender Teil deutscher Geschichte, Teil unserer Identität und damit auch Teil unserer Gegenwart. Es gibt keine kollektive Schuld, aber es gibt eine kollektive Verantwortung; Verantwortung für die Erinnerung und für die Gestaltung der Zukunft. Verantwortung, Lehren aus den nationalsozialistischen Verbrechen zu ziehen.

Die Väter des Grundgesetzes haben diese Lehren gezogen und sie im ersten Artikel unserer Verfassung festgeschrieben: "Die Würde des Menschen ist unantastbar". An diesem Auftrag, die Würde des Menschen zu achten, sie zu schützen und für Menschenrechte einzutreten, muss sich jeder einzelne von uns jederzeit messen lassen. Wir wissen, dass Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus in unserem Land nicht verschwunden sind. Deshalb müssen wir wachsam sein und die Grundwerte unseres Rechtsstaates jeden Tag auf´s Neue bekräftigen. Wir, das sind wir Alle. Gleich welcher demokratischen Partei oder Wählervereinigung wir angehören. Gleich ob wir religiös sind. Das gilt für uns alle, denn das sind wir den Opfer des Holocaust schuldig.

Das Wissen um die Verbrechen der Nationalsozialisten, die Erinnerung an die Opfer und Ihre Leiden ermahnt uns, unserer historischen Verantwortung gerecht zu werden. Den Weg in eine friedvolle Zukunft können wir nur gehen, wenn wir die Erinnerung an die Verbrechen des Deutschen Reiches unter den Nationalsozialisten wach halten und sie an kommende Generationen weitergeben.

Bei allem Positiven, was wir bislang erreicht haben, dürfen wir doch nicht nachlassen, uns und andere zu erinnern. Die Verfolgung und Ermordung einer ganzen Gemeinschaft darf sich in Deutschland und in der Welt nie wiederholen. Deshalb müssen wir alle ganz genau hinschauen, wenn wieder eine Ideologie der Ungleichwertigkeit Einzug hält. Hier in Zittau genauso wie in unseren Nachbarstädten, in Sachsen und in ganz Deutschland.

Dann müssen wir denen die Stirn bieten und laut „Nein“ sagen. Denn das ist doch die eigentliche Lehre, die wir aus dem 9. November 1938 ziehen sollten. Eigentlich wollte ich mit den Worten "Wehret den Anfängen!" schließen. Doch dafür ist es zu spät. Gerade auch unter den Eindrücken der letzten Bundestagswahl ist daher mein Apell: Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus.

Kommentare Lesermeinungen (0)
Lesermeinungen geben nicht unbedingt die Auffassung der Redaktion, sondern die persönliche Auffassung der Verfasser wieder. Die Redaktion behält sich das Recht zu sinnwahrender Kürzung vor.

Schreiben Sie Ihre Meinung!

Name:
Email:
Betreff:
Kommentar:
 
Informieren Sie mich über andere Lesermeinungen per E-Mail
 
 
 
Weitere Artikel aus dem Ressort Weitere Artikel
  • Quelle: red | Fotos: © Görlitzer Anzeiger
  • Erstellt am 10.11.2017 - 10:49Uhr | Zuletzt geändert am 10.11.2017 - 11:23Uhr
  • drucken Seite drucken
Anzeige